Mit der Reise wollte ich mich über die Kultur und die wirtschaftliche Lage in der Ukraine und auch über die Möglichkeit von kooperativen Beziehungen beziehungsweise die Erschließung neuer Geschäftsfelder informieren.
Bereits vor Jahren hatte ich Angebote zu Handelsbeziehungen erhalten, ohne diese richtig einordnen zu können. Natürlich interessierte es mich auch als Fachmann für Immobilien, welche Bautechnologien (Beton- und Mauerwerksbau) zur Anwendung kommen, um hier Vergleiche zur Bauausführung in Deutschland und der CESKA Republika anstellen zu können. Mich interessierte neben der Ausführung der Wohngebäude auch die Infrastruktur sowie die wirtschaftliche Lage.
Ich bin allein kreuz und quer durch Vinnitsa gelaufen, ohne irgendwo Probleme zu bekommen. Allerdings habe ich versucht, wichtige Hinweise auch einzuhalten, mich möglichst unauffällig zu kleiden und den Mund zu halten, damit man mich nicht gleich als Ausländer erkennt. Bei Dunkelheit sollte man nicht mehr auf die Straße gehen, wobei dies an den Abendstunden auch möglich war. Es verlockte zwar, Gespräche mit den Bauarbeitern zu führen, ich unterließ dies aber. (In Deutschland hatte ich gemeinsam mit Russen, Polen und Ukrainer gearbeitet und hatte keine Probleme. Sie haben ihre Arbeit ordentlich gemacht.) Vorsichtshalber habe ich mich auf eigene Beobachtungen beschränkt und Gespräche nur mit mir bekannten Personen geführt.
Vinnitsa besteht sowohl aus älteren Gebäuden aus Ziegelsteinen und Großplattenbauweise sowie aus vielen neuen Gebäuden unterschiedlicher Konstruktion. Dazu gehören Gebäude in traditioneller Ziegelbauart bis 9 Etagen oder die Skelettbauweise. Die Ziegelbauart dominiert in der Ukraine und konnte bei den vielen Hunderten Kilometer Autofahrt durch das Land festgestellt werden.
Gerade bei den neuen Gebäuden wurden interessante architektonische Aspekte umgesetzt. Im Stadtplan vom 26.11.2007 sind umfangreiche Gebäudeplanungen ausgewiesen, wie zum Beispiel in der Вул. Зодчих.
Die Hauptstraßen sind so weit in Ordnung. Hier sind wesentlich weniger Löcher als in den Nebenstraßen. Die Nebenstraßen in meiner Heimatstadt sind aber auch nicht in Ordnung. In Вiнниця sind die Löcher etwas größer, aber man sieht diese eben schon von weiten und kann sie umfahren. Vergleicht man natürlich die Qualität der Landstraßen mit den in Deutschland oder Polen, so schneiden diese nicht gut ab. Das Schreiben im Bus ist durch das Rütteln nahezu unmöglich.
In Deutschland versucht man jede freie Bodenfläche in der Stadt mit Beton, Pflastersteine oder Edelrasen zu versiegeln, so braucht man einige Tage, um sich an die (nicht) Gestaltung der “Grünanlagen” bei den älteren Gebäuden in Vinnitsa zu gewöhnen. Ich kenne dies aber auch noch aus der ehemaligen DDR. Bei den Neubauten erfolgt eine ordentliche Grünflächengestaltung. Ebenso werden Blumenbeete an den Straßen durch Gärtnerinnen gestaltet, so wie es auch zuhause erfolgt. Ebenso kommen auch hier die Motorsensen zum Einsatz. Früh um 7.00 Uhr werden die Fußwege vor den jeweiligen Häusern gefegt. Es liegt auch verhältnismäßig wenig Abfall und Dreck herum. Das betrifft aber auch die anderen Städte, wie L´viv, Ternopil oder die kleine Stadt Uman mit über 50.000 Einwohnern.
Den Hausverwaltungen stehen sicherlich nur sehr geringe Geldmittelmittel zur Verfügung. Die Mietkosten für eine 3 Zimmerwohnung betragen bei 600 bis 700 Грн.(etwa 60 - 70 Euro). Damit liegt eine ähnliche Situation wie in der ehemaligen DDR vor, sodass die Wohnungen vom Staat oder der Gemeinde subventioniert werden müssen.
Was zurzeit aus wirtschaftlichen Gründen nach dem Zusammenbruch der alten Form des Staatskapitalismuses nicht möglich ist. Andererseits müssen die Wohnungen aber auch bezahlbar bleiben. Nach meinen Informationen verdient eine Lehrerin etwa 150 Euro pro Monat. Damit wird etwa 50% des Verdienstes für die Miete benötigt. Wie die Menschen ohne Arbeitseinkommen das schaffen, ist verwunderlich. Und das betrifft überwiegend einen großen Teil der Bevölkerung. Das Treppenhaus, wo ich wohnte, und der Spielplätze davor waren vollständig ungepflegt. Ich konnte aber nicht erkennen, dass irgendwo bei den Gebäuden Einschränkungen der Bewohnbarkeit vorliegen.
Dagegen waren in der ehemaligen DDR viele Gebäude in einem schlechteren Zustand. Und wenn man durch Leipzig läuft, findet man viele halb verfallene Gebäude. Das konnte ich in Vinnitsa nicht feststellen. Ebenso ist mir kein Leerstand von Wohnungen aufgefallen.
Durch die großen Wohngebäude liegt eine Anonymität vor, hinzu kommt Resignation, Gleichgültigkeit und die Armut, die ein Teil der Gebäude verwahrlosen lässt. Es ist anzunehmen, dass die großen Gebäude durch große Hausverwaltungen verwaltet werden. Diese haben einen entscheidenden Nachteil, da die Mitarbeiter der Verwaltung kein direktes wirtschaftliches Interesse am Zustand der Gebäude haben. Diese negative Einstellung liegt aber auch bei der Leipziger Wohnungs- und Baugesellschaft mbH (LWB) vor, wobei langsam eine Besserung erfolgt. Der Hauseingang in dem Haus, wo ich wohnte, war dreckig, der Putz viel ab (Schleifspuren), die Briefkästen erinnern daran, dass irgend einmal Briefe hineingesteckt wurden. Beim Nachbarhaus war der Hauseingang gefliest und die Wände schön geweißt.
Man erzählte mir, dass die Hausbewohner die Malerarbeiten des Treppenhauses selbst finanzieren. Die Mieter sammeln Geld und damit werden die Arbeiten bezahlt. Wo ich noch in der KWV (Kommunale Wohnungsverwaltung) in Leipzig wohnte, war es ähnlich. Hier war Eigeninitiative gefragt.
Die Gebäudestruktur ist sehr unterschiedlich. Vorwiegend sind Gebäude vorhanden, die in den letzten 50 Jahren gebaut wurden. Dabei dominiert der Ziegelbau. Analog wie in der ehemaligen DDR wurden in den 50iger Jahren Wohngebäude mit 3 bis 4 Etagen gebaut.
Später wurden Hochhäuser errichtet. Dabei dominierte die Großplattenbauweise. Auch hier gibt es die Probleme mit der Abdichtung der Fugen. Die sinnvolle Sanierung mit den vorkomprimierten Dichtungsbändern konnte ich nicht feststellen. Man versuchte, die Risse zu überspachteln oder zu überkleben. Genau kann dies nicht gesagt werden, da diese Sanierung vorwiegend in den oberen Etagen erfolgte. Welche höheren Gebäude zu dieser Zeit auch in Ziegelbauweise ausgeführt wurden, kann nicht genau bestimmt werden. Bei vielen Gebäuden wurden außen Keramikplatten angesetzt, sodass die klassische Ziegelbauweise imitiert wurde.
Mit den Plattenbauten können preisgünstig und schnell moderne Wohnungen errichtet werden. Damit konnte auch in der ehemaligen DDR schnell der Wohnungsmangel beseitigt werden. Die Wohnungen sind mit einer Warmwasserheizung ausgestattet, haben eine Küche, Bad und warmes Wasser. Heute werden andere Anforderungen an die Ausstattung einer Wohnung gestellt. Die neuen Gebäude werden mit 9 Etagen in klassischer Ziegelbauweise erstellt. In Ternopil hatte ich sogar 10 Etagen gezählt. Die Ausführung erfolgt außen mit Kalksandsteinen (eventuell Zementsteinen) und innen mit 3-Lochziegelsteinen. Die Wände werden mit einer Stärke von 48 cm ohne Außenputz ausgeführt. Bei dieser Konstruktion sind somit kaum Grenzschichten vorhanden und dürfte so zu der besten feuchtechnischen Wandkonstruktion zählen. Eine Bauausführung, die mein Kollege, der Schweizer Architekt Paul Bossert, seit vielen Jahrzehnten als sinnvoll ansieht. Dagegen baut man in Deutschland die tragenden massiven Außenwände sehr schlank mit Kalksandsteinen und 30 cm Wärmeisolierunmg aus Polystyrolplatten.
Ein Gebäude mit 9 Etagen und in dieser Bauausführung ist natürlich auch energetisch viel effektiver als eine Vielzahl kleiner frei stehender Einfamilienhäuser. Dies dürfte wohl selbst den härtesten Dämmstofffanatiker klar sein, auch wenn er es nicht zu gibt.
An den Ziegelgebäuden habe ich so gut wie keine Feuchteschäden gesehen (ausgenommen bei fehlenden Fallrohren oder Blechabdeckungen) und das trotz der mangelhaften Gebäudeerhaltung. Es liegen aber auch Ausführungsfehler vor, wie zum Beispiel die Zerstörung der Kanten der auskragenden Betonplatten der Balkone. Ein Ausführungsfehler, der den Niederschlag nicht über eine Tropfkante abführt.
Die Gestaltung der Ladengeschäfte im Erdgeschossbereich der älteren Gebäude ist sehr schön gelungen. Ebenso finde ich die Gestaltung der neuen 9-geschossigen Ziegelgebäuden sehr interessant.
Allerdings sind mir eine Reihe von kleinen Schäden aufgefallen, die eindeutig dem mangelhaften Qualitätsbewusstsein zu zuordnen sind. Die sind vielleicht aus Unkenntnis entstanden. So sieht man zum Beispiel bei dem ausgeschalten Betonfundament eine äußere Betonabdeckung zwischen weniger als 1 cm und an einer anderen Stelle bis 5-8 cm. Hier waren keine Abstandhalter vorhanden. Oder der Bauschaum unter der Fensterbank oder unter dem Sturz bleibt vorhanden. Die Fugen wurden nicht mit Putz verschlossen. (Besser ist natürlich das Einlegen von vorkomprimierten Dichtungsbändern.) Teilweise sind die neuen Gebäude noch nicht einmal bewohnt und die Wandfliesen sowie Bodenfliesen am Eingangsbereich sind schon abgefallen. Die im Dickbettverfahren verlegten Fliesen liegen teilweise hohl. Aber auch die im Dünnbett verlegten Fliesen fallen ab. Es gibt zahlreiche Verarbeitungsfehler, z. B. zu trockner Mörtel, falsche Beurteilung des Saugverhaltens der Keramik und anderes reichen. Sicherlich möchte man vieles sehr schön machen. Aber nicht jedes Baumaterial kann den klimatischen Ansprüchen ausreichend gerecht werden. Vor allem dann, wenn im Außenbereich Innenfliesen verarbeitet werden. Sicherlich ist die Verwendung einer Kunststoffbeschichtung an den entsprechenden Stellen geeigneter.
Wo ich über die Brücke über den Bug der Вул Вячеслава чорновола lief, sind mir die Löcher im Fußweg aufgefallen. Aus den Löchern ragten quer die freigelegten Bewährungseisen heraus. Die Betonsäulen und Bögen auf der Unterseite sehen alles anders als vertrauenserweckend aus. An den Kanten liegen teilweise die Bewährungseisen frei.
Erstaunt war ich natürlich über eine junge Frau mit Gummihandschuhen, die in einen großen Farbtopf griff und mit einem gefalteten Lappen oder Schwamm den Sockel aus Rauputz mit Farbe beschichtete. Zwei Tage später sah ich Maler bei einem neuen Einfamilienhaus. Die benutzten eine Malerrolle. Wo ich mein Bauberuf erlernte, gab es auch einige weibliche Lehrlinge. Aber später habe ich auf Baustellen keine Frauen bei Maurer- und Betonarbeiten gesehen. Hier in der Ukraine ist es etwas Normales, dass Frauen auf der Baustelle arbeiten. In Deutschland ist das eher eine Ausnahme.
Aus meiner Sicht, ist der Klein- und Mittelstand nur ungenügend entwickelt. Bei der Errichtung zum Beispiel eines 9-stöckigen Wohnhauses ist ein kleiner mittelständischer Betrieb vollständig überfordert. An den Randgebieten der Städte und auf dem Land gibt es kleinere Gebäude. Hier erfolgt auch ein Neubau von Einfamilienhäusern, analog den mitteleuropäischen Baustil.
Aber durch die hohe Armut der Bevölkerung ist auch in naher Zukunft nur eine schwache Entwicklung von Bauleistungen im Individualbereich zu erwarten, wie die Schaffung von Wohneigentum. In den nächsten Jahren wird sich dies mehr auf die Verbesserung des Ausstattungsgrades in den Wohnungen und Häusern beschränken.
Bei den mehreren 100 km Fahrten durch die Ukraine sind mir nur sehr wenige Unternehmen im Sekundärbereich aufgefallen. Vorwiegend dominiert der Handel. Es gibt eigentlich alles zu kaufen. Die Struktur reicht von der Tradition aus Sowjetzeiten bis zum modernsten Management. Gehandelt wird eigentlich mit allem. Besonders ist der Ideenreichtum zu werten. Dort wo Industrieteile gehandelt werden (um mich nicht nur auf den riesigen Autoteilehandel „Маг. аеторинок Сатурн“ zu beschränken), stehen mitten drin auch kleine Stände mit Lebensmitteln und Getränken. Die Logik ist auch klar. Wenn ich dort zwei oder drei Stunden mit dem Suchen und Kaufen der gewünschten Artikel beschäftig bin, bekomme ich auch Hunger. In Deutschland ist so eine enge Verflechtung nicht zu erkennen.
Wurde der Tante Emma Laden in Deutschland von einem Selbstständigen geführt, so sind in einem Ladengeschäft mehrere Selbstständige, einer nur für Backwaren, einer für Lebensmittel und einer für Getränke. Also drei Kassen. Es ist etwa vergleichbar mit einem deutschen Supermarkt, wo dann im Eingangsbereich der Fleischer, Bäcker Blumenhändler und so weiter ihre Produkte anbieten, aber eben ohne den Supermarkt. Die Art der Verkaufseinrichtung reicht vom магазин bis zum modernen супермаркет.
Ixg saß auf einer Bank im Максима Горького.Neben mir packte ein Mütterchen ihre zwei Stoffbeutel aus. Einen kleinen Campingstuhl und ein einfaches Schild aus Pappe mit der Aufschrift „чзной свой вес 0,25 коп“ und stellte eine einfache Personenwaage auf. Ich blieb etwa noch 20 Minuten auf der Bank sitzen. In dieser Zeit hatten sich 4 Personen gewogen. Ein schnell vorbei eilender Unternehmer hat mindestens 1-2 Гривень bezahlt. Ich dachte erst, er kommt von der Gewerbeaufsicht und kontrolliert das Mütterchen. Sie hat in dieser Zeit umgerechnet etwa 15-20 Cent verdient. Das ist nicht viel. Aber manchen wir einen Vergleich an etwas Lebensnotwendigen. Zum Beispiel am Strom. (In meinem Appartement wurde die letzte Stromrechnung über 45 kWh mit 10,96 Гривень, etwa 1 Euro, eingeworfen.) So entspricht dieser Verdienst etwa 4,5 – 9 kWh Strom. In meiner letzten Stromrechnung in Leipzig kostet ein kWh 28,36 Cent. Damit entspricht das etwa einem Einkommen in Deutschland von etwa 1,3 bis 2,5 Euro in 20 Minuten.
Wenn der deutsche Warenkorb der Realität entsprechen würde, könnte man einen Vergleich durchführen. Aber mit der hedonischen Methode lässt sich mit komplizierten multivariaten Regressionsanalysen der deutsche Strom scheinbar billiger in den Warenkorb ablegen.
Was ich eigentlich sagen möchte, Deutschland sieht sich als Land der Ideen und Innovationen. Aber von solchen einfachen Ideen kann man lernen. Durch den Verein Brücke Osteuropa werden aufwendig inszenierte Geschäfts- und Kontaktreisen organisiert. Man sieht nur das, was gezeigt wird. Aber die wirkliche Wirtschaftsstruktur, die Probleme der Menschen (als Arbeitskraft und Verbraucher) lernt man nicht kennen. Ich persönlich halte nichts von organisierten Reisen. Sicherlich versucht man das westliche kapitalistische Wirtschaftssystem als Maßstab anzusetzen. Dass es dem Staatskapitalismus von Russland und China unterlegen ist, werden wir in den nächsten Jahren noch zu spüren bekommen.
Wer die Ukraine ohne Vorbehalte kennenlernen möchte, der reist unabhängig als unauffälliger Bürger. Weder im Flugzeug noch in der Eisenbahn hat man Kontakt zu den Menschen, wie im Reisebus. Nur wenn man in das Leben eintaucht, kann man wirklich Ideen sammeln und versteht wenigstens in Ansätzen das Leben in der Ukraine.
Durch die sehr unterschiedlichen Traditionen und Wertevorstellungen wird man das ukrainische Leben ohnehin nicht vollständig verstehen. Ebenso war es aber auch umgekehrt.
Viel Unverständnis, warum ich als Unternehmer kein Handy benötige und dieses nur für dringende Zwecke habe. Es hätte ja auch keinen Zweck zu erklären, was Bewegungsstudien sind. Ich habe auch kein Interesse, teure Rufumleitungen für Leute zu bezahlen, die ohnehin nur eine kostenfreie Fachauskunft wollen. Aber in Vinnitsa ist das Handy offensichtlich ein Statussymbol. Es ist ja auch gegenüber den Tarifen in Deutschland wesentlich billiger.
Das eigentliche Problem besteht nicht in der unterschiedlichen Sprache, sondern was man inhaltlich zum Ausdruck bringt. Hier können extreme Missverständnisse auftreten.
Als ich zum Beispiel an den gesprengten Bunkeranlagen vom Führerhautquartier Wehrwolf stand, war mir die Situation echt peinlich. Peinlich für die Grausamkeiten des nationalsozialistischen Regimes. Ich dachte an die 10.000 Menschen, die grundlos hier in der Nähe aus einer Laune heraus kaltblütig erschossen wurden und an den deutschen Erfindergeist der Sardinenpackung, um effektiv Menschen zu ermorden. Wobei meine Eltern zu dieser Zeit selbst erst Kinder waren und selbst sehr viel Leid durch diesen Wahn erfahren mussten und ein Teil meiner Verwandtschaft ihre Heimat verlor.
Es tat mir auch im Bus weh, wo sich Bürger aus den alten Bundesländern nicht unfreundlich aber etwas herablassend zu den Leben in der Ukraine äußerten. Was auch in der Bemerkung, „wir Deutsche müssen zusammensitzen“ zum Ausdruck kam. Es traf mich wie ein Stich. Vielleicht hatte er es auch nicht so gemeint.
Auf der Hinfahrt hatten mir zwei junge ukrainische Familien, als sie aus dem Bus stiegen, viel Glück und alles Gute in der Ukraine gewünscht. Eine Herzlichkeit, wie ich sie vor 10 Jahren auf der Geschäftsreise in Kusadasi und Güselcamli gegenüber der Insel Samos erleben durfte. Die alle meine Vorurteile gegenüber der Türkei abbaute.
Unser Fahrer Alexander reagierte dagegen ganz anders. Er sprang mit einer Begeisterung auf den Trümmerstücken der Bunkeranlage Werwolf herum und erzählte, welche Wucht die Sprengungen hatten, die durch die russischen Soldaten durchgeführt wurden. Er erzählte aber auch, dass ein naher Verwandter durch die Deutschen erschossen wurde.
Die Ukrainer lieben mit einer Begeisterung ihre Hauptstadt Kiew. Für sie war es unverständlich, warum Berlin mir vollkommen gleichgültig ist.
Ich hatte den Eindruck, dass lebensnotwendige Artikel und auch die Preise in Gaststätten in Vinnitsa bezahlbar sind. Dies ist immer unter dem Gesichtspunkt des Verhältnisses zu sehen. Aufgefallen ist mir besonders, dass durch den fehlenden Wettbewerb sehr große Widersprüche vorhanden sind. Dies betrifft die Preisgestaltung und die Verhältnismäßigkeit. In einem kleinen Laden wurden Parkettdielen und Laminat zwischen 350 – 500 Гривень (35-50 Euro) angeboten. Eine Lehrerin mit Universitätsabschluss wird sich in ihrer Wohnung nie einen Fußboden mit Laminat auslegen können. Oder ein Telefonanschluss kostet 80 Euro. Der Benzinpreis liegt zwischen 5,50 bis 6,10 Гривень, das entspricht etwa 55 bis 61 Cent. Für die meisten Ukrainer sicherlich ein unerschwinglicher Preis.
Jüngere Menschen, vor allem Mädchen und Frauen treten sehr selbstbewusst und gut gekleidet auf. (Zack ist das kleine Spiegelchen offen und schnell nachgesehen, ob das Aussehen korrekt ist. Sicherlich schon fast eine Handlung im Unterbewusstsein.)
Bei Bürgern ab etwa 50 Jahre sieht man die sozialen Probleme an der Kleidung und am Auftreten an. Das Selbstbewusstsein ist gewichen.
Die Resignation und Hilflosigkeit dieser Generation kann ich gut verstehen. Es ist hart keine Besserung in naher Zukunft zu sehen. In Deutschland, vor allem in den östlichen Bundesländern, erfolgt die Verteilung von verschiedenen Leistungen, wie bezahlte Umschulung, Arbeitslosengeld, Sozialhilfe, vorzeitige Rente und so weiter. Damit konnten in Deutschland soziale Spannungen bisher erfolgreich vermieden werden. Aber die Ausgrenzung aus dem gesellschaftlichen Leben kann damit nicht behoben werden. Es ist verwerflich, dass man selbst in Deutschland trotz einem Vollzeit-Job sein Lebensunterhalt nicht begleichen kann und auf soziale Hilfe angewiesen ist. In dem reichen Deutschland kein Einzelfall. Wie viel schlimmer muss es erst in der Ukraine sein, wo viel extremere Bedingungen vorliegen, die zusätzlich durch die Auswirkung der gegenwärtigen Finanz- und Wirtschaftskrise verstärkt werden. Ich kann den Ukrainern nicht genügend Respekt zollen, die trotz dieser Situation voller Stolz ihre Heimat lieben. Ein Stolz, der sicherlich auf die historische Entwicklung seit dem 10. Jahrhundert des Kiewer Rus zurückzuführen ist.
Besonders älteren Menschen im Rentenalter kämpfen um das Überleben. Um das Vielfache schlechter, wie ich es noch von meinen Großeltern kannte, die mit einer sehr geringen Rente noch etwas dazu verdienten. Mit kleinen Arbeiten (Kaninchen schlachten, Garten pflegen, Wäsche waschen und so weiter), wie es eben früher in einer kleinen Stadt üblich war.
Man sieht am Straßenrand in der Ukraine ältere Menschen, die auf ihre Kuh oder mit einem Stöckchen auf 3 Hühnchen im Rasenstreifen zwischen zwei Straßen mitten in Vinnitsa aufpassen. Es sind riesige soziale Spannungen erkennbar. Man muss beachten, dass hier selbst Vollberufstätige mit Universitätsabschluss gerade einmal über die Runde kommen. Ein oder zwei Tage Arbeitsausfall können bereits die Existenz bedrohen.
Ein eigener Computer zu Hause ist keine Selbstverständlichkeit und ein Auto bleibt nur ein unerschwinglicher Traum. Aber fasst jeder, läuft mit einem Handy herum. Eine SIM Karte mit Gebührenkarte bekommt man für circa 40 Гривень, also 4 Euro. (Ich brauche nur an die Kosten meiner ersten Handys denken.) Vergleicht man die Gebühren, so kann ich damit in Deutschland gerade einmal 20 Minuten telefonieren. Wer also einige Tage in der Ukraine bleibt, kauft sich eine SIM-Karte von киiвстар und erspart sich die teure Einwahl in +38.
Der Personenverkehr wird durch Obusse, Straßenbahnen, Busse, die gelben Trolleybusse und kleine Zubringerbusse bewältigt. Taxis und PKW´s und LKW`s gehören ebenso zum Straßenbild. Ich hatte den Eindruck, dass der Fahrzeugstrom der PKW`s nicht spürbar geringer ist als in Leipzig. Aufgefallen ist mir, dass es kaum Radfahrer gibt. Nicht verwunderlich bei den guten und preiswerten öffentlichen Fahrmöglichkeiten. Der gut ausgebaute öffentliche Nahverkehr ist aktiver Umweltschutz. Eine sinnvolle Lösung zwischen öffentlichen und individuellen Transportmöglichkeiten. Anders in Leipzig, wo man für 1 Stunde Fahrt mit der Straßenbahn 2 Euro bezahlen muss, was fast einen halben Stundenlohn einer Verkäuferin oder Friseurin kostet. Wem verwundert es, dass man dann mit dem Auto fährt.
Auf den Straßen in Vinnitsa gibt es ein buntes Treiben. Ich wohnte neben der Вул. Пирогова. Man könnte diese Straße etwa mit der Georg-Schuman-Straße (Bundesstraße 6) in Leipzig gleichstellen. Auf der Вул. Пирогова gibt es Laden an Laden, viele Basare, Gaststätten und Banken. Auf der Straße viele Menschen.
In der Georg-Schumann-Straße gibt es ein paar Läden zum An- und Verkauf sowie Verkauf von Dönern und nur vereinzelt ein paar andere Geschäfte. Der überwiegende Anteil an Ladengeschäften wurde wieder geschlossen.
Wenn man die pulsierenden Städte in der Ukraine erlebt hat, so konnte ich mich bei meiner Ankunft neben dem Leipziger Hauptbahnhof um 10 Uhr nicht den Eindruck erwehren, ich befinde mich in einer unbedeutenden Kleinstadt. Aber diesen Eindruck hatte ich schon vor zwei Jahren erhalten, als ich mit dem Zug im Winter von Neumünster über Hamburg, Berlin nach Leipzig fuhr. Hamburg hell erleuchtet, Berlin war etwas weniger durch Reklameschilder erleuchtet und erst bei der Einfahrt in den Hauptbahnhof merkte man, dass man in Leipzig ist. Ich glaube, in der Berliner Straße war eine kleine unbedeutende Reklame zu sehen, ansonsten war alles dunkel.
Vor wenigen Wochen rief mich mein Cousin aus Oschatz an. Er klagte unteranderem, dass in seiner Stadt nur noch ältere Menschen wohnen. Dies fiel mir auch auf, als ich in Leipzig vor dem Hauptbahnhof in die Straßenbahn stieg. Ein gewaltiger Unterschied gegenüber Vinnitsa.
In Vinnitsa sollte man auch das Нацiональний музей-садуба М. I. Пирогова und das Mausoleum von Nikolai Iwanowitsch Pirogow (1810–1881), ein berühmter Chirurg und Pädagoge des 19. Jahrhunderts im fünf Kilometer entfernten Dorf Pirogowo besuchen. Hier wurde auch W. I. Lenin einbalsamiert.
Ebenso kann man die gesprengten Bunker das Führerhauptquartier „Werwolf“ in unmittelbarer Nähe des Dorfes Strishawka an der Straße nach Shitomir in einem Wald 15 km nordnordöstlich von Vinnitsa besuchen. Das Wasser- oder Schwimmbecken, als Bild in der russischen Dokumentation zum Werwolf abgebildet, ist noch erhalten. Ich stand also auch dort, wo vor 66 Jahren Adolf Hitler mit seinen Generälen stand und den blutigen Terror ausheckte.
Zu empfehlen ist ein Besuch des Дендрологiчний парк im etwa 160 km entfernten Uman. Ebenso sollte man auch einmal in Ruhe ein ukrainisches Essen schmecken lassen.
Die Ukraine ist ein schönes blühendes Land mit endlosen Feldern,Weiden und Wäldern. Ist Polska wesentlich dichter bewohnt und auch das Aussehen der Dörfer und Städte sehr angenehm, so wird man gleich nach der Grenze in Deutschland von unzähligen landschaftsverunstaltenden Windmühlen empfangen. Sie dienen lediglich der Profitgier und einiger Ökos, die davon überzeugt sind, etwas für die Natur zu tun. Wenn diese Stromerzeugung wenigstens wirtschaftlich sinnvoll wäre, dann könnte man die Verunstaltung unserer Heimat wenigstens noch etwas verstehen. Es ist nur zu hoffen, dass die Ukrainer sich nicht wie der deutsche Michel ihre Landschaft verunstalten lassen. Vorerst sicherlich nicht, da dieses Land sich nicht den Luxus leisten kann in unwirtschaftliche Technologien zu investieren.
Ich schätze ein, dass ein hohes wirtschaftliches Potenzial in der Ukraine vorhanden ist. Und es ist ein stolzes Volk.
Ich wurde nach meiner Rückkehr von verschiedenen Bekannten gefragt, wie es dort ist. Ein Vergleich lässt sich nur schlecht anstellen. Wenn man berücksichtigt, dass die Menschen über sehr viel weniger Geld verfügen und damit auch die Kaufkraft viel niedriger ist, so kann man nur mit viel Vorsicht ein Vergleich mit Ostdeutschland in der Zeit um 1992 anstellen.
Peter Rauch 3.6.2009
Ergänzung: In der Zwischenzeit kamen verschiedene Kritiken zu diesem Beitrag. Außenstehende haben diesen als informativ eingeschätzt. Diese Einschätzung machten auch Ostdeutsche, die früher berufsmäßig in Vinnitsa zu tun hatten. Eine gleiche Resonanz kam von einem Deutschen aus dem Raum von Vinnitsa, der jetzt dort zusammen mit seiner Familie wohnt. Anders sehen es Deutsche, die in Kiew wohnen. Von Deutschen in Deutschland wird der Artikel als konservativ angesehen.
Ich habe berufsmäßig sehr viel direkt auf Sanierungsbaustellen gearbeitet. Direkt oder indirekt habe ich mit Polen, Ukrainer, Russen und Arabern gearbeitet. Es gab nie irgendwelche Probleme. In der Zwischenzeit war ich bereits länger als 3 Monate in der Ukraine. Ich konnte mich frei bewegen und habe bisher nur äußert nette Ukrainer kennengelernt. Für mich ist die Ukraine ein sehr interessantes Land, dass eines Tages meine neue Heimat werden wird.
4.01.2010, Peter Rauch
Reise nach Kiew Kiew August 2009.
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