Selbmann, Fritz 1956
Vor unserem Lande steht die Aufgabe, nicht nur den höchsten Stand der Technik in allen Zweigen der Industrie, der Landwirtschaft und des Transportwesens. zu erreichen, sondern in historisch kürzester Frist den in der Welt erreichten Höchststand der Technik zu überflügeln. Dieses Ziel ist erreichbar, da bei uns und in allen Ländern des Sozialismus die wichtigsten Produktionsmittel Eigentum des ganzen Volkes sind und die ökonomische und gesellschaftliche Entwicklung von all jenen Hemmnissen befreit ist, die sich aus den die kapitalistische Produktionsweise beherrschenden Widersprüchen ergeben. Die Welt steht an der Schwelle einer neuen Epoche der Technik, am Beginn einer technischen und industriellen Umwälzung.
Jede industrielle Umwälzung aber war und ist entweder die Entdeckung oder Nutzbarmachung einer bisher unbekannten oder ungenutzten Naturkraft bedingt oder durch die Entdeckung eines neuen technischen Prinzips. Beide Bedingungen der technischen Revolution wirken in der Regel zusammen und stehen in Abhängigkeit zu einander. Das gilt auch für die gegenwärtig beginnende technische Revolution. Die wichtigsten Faktoren dieses jetzt beginnenden Prozesses sind die Entdeckung. der Atomkraft und das Prinzip der Vollautomatisierung, d. h. weitgehende in manchen Produktionszweigen völlige Verdrängung der manuellen Arbeit durch Automatismen, durch Vollautomatisierung der industriellen Produktion. Die Vollautomatisierung führt zu einem schnellen Anstieg des Bedarfes an Energie. Diesem Bedarf wird aber schon in kurzer Zeit mit den bisherigen technischen Mitteln der Erzeugung von elektrisch Energie nicht mehr entsprochen werden können. Darum ist die Entdeckung der Kernkraft als einer völlig neuen und der bisherigen um ein Vielfaches überlegenen Energiequelle der entscheidende Faktor für die sich anbahnende technische Revolution.
Wenn wir über die Anwendung der Atomenergie sprechen wollen, dann ist es vorerst notwendig, zwei Bereiche grundsätzlich von einander zu unterscheiden:
Die grundsätzliche Unterscheidung zwischen diesen beiden Bereichen beschränkt sich natürlich nur auf die Art der technischen Nutzung und bedeutet nicht, dass es sich dabei um voneinander unabhängige Kräfte handelt. Es ist bekannt, dass bestimmte Abarten von Elementen, sogenannte Isotope, von chemischen Grundstoffen instabil sind und sich in ganz verschieden langen Zerfallzeiten in ein anderes Isotop des gleichen Elements oder in einem anderen Elementarstoff verwandeln. Dabei senden sie je nach dem Charakter des Ausgangsstoffes und der Art des Zerfallvorgangs, Strahlen verschiedener Härte aus, und zwar im wesentlichen drei Arten:
Alpha-Strahlung - Kerne des Elements Heliurn He4;
Beta-Strahlung - Elektronen, also elektrisch negativ geladene Teilchen von sehr geringer Masse, und
Gamma-Strahlung - sogenannte Photonen, eine mit der Röntgenstrahlung verwandte Strahlungsart.
Es ist weiter bekannt, daß es in der Natur nur wenige radioaktive Isotope mit einer so kurzen Zerfallszeit gibt, daß eine technische Nutzung möglich wäre. Erst durch die Entdeckung der künstlichen Radioaktivität durch Joliot-Curie wurde die Möglichkeit geschaffen, eine große Zahl von instabilen Isotopen künstlich zu erzeugen. Diese Erzeugung vollzieht sich auf dem Wege der Kernspaltung oder durch anderweitige Herauslösung von Nukleonen aus dem Atomkern. So stehen also beide Zweige der Nutzung der Kernenergie miteinander im Zusammenhang und sind voneinander abhängig. Der grundsätzliche Unterschied beruht lediglich in der Art der technischen Nutzung.
Es ist bekannt, daß radioaktive Isotope in der Hauptsache zu Indikationszwecken verwendet werden, d. h. zu Zwecken der Messung und Prüfung mit Hilfe von markierten, also künstlich radioaktiv gemachten Atomen. Die vielfältigen Möglichkeiten der Verwendung radioaktiver Isotope in der Technik sind weitgehend erforscht. Demgegenüber sind die Probleme der Stoffbeeinflussung durch radioaktive Strahlung, woran vor allem in der chemischen Produktion gedacht werden muß, nach verhältnismäßig wenig geklärt.
Von grober Bedeutung für die beginnende industrielle Umwälzung ist die Gewinnung von elektrischer Energie aus Kernkraft. Oft wird gefragt, ob wir gegenwärtig noch im Zeitalter der Dampfkraft oder bereits im Zeitalter der Atomenergie leben. Diese Fragestellung ist offensichtlich falsch.
Solange das Problem der unmittelbaren Umwandlung von Kernkraft in Elektroenergie nicht gelöst ist, und das dürfte noch eine Reihe von Jahren auf sich warten lassen, erfolgt die Erzeugung der elektrischen Energie auch im Atomkraftwerk noch Im wesentlichen auf dem Wege über die Dampfturbine. Selbst wenn die Gasturbine die ältere Dampfturbine verdrängt haben wird, bleibt doch die Umwandlung der Kernbindungskräfte in kinetische Energie das bestimmende Zwischenglied dieser Energieumwandlung. Was sich verändert, ist lediglich der primäre Energieträger.
Eine Methode, die wahrscheinlich in der Zukunft die größte Bedeutung haben wird, ist die sogenannte Kernfusion, Sie ist etwas ganz anderes als die Kernspaltung, sie ist gerade das Gegenteil. Bei der Kernspaltung werden schwere Atomkern, z. B. Uran mit dem Atomgewicht 238, gespalten. Dabei wird ein Energieüberschuß frei, der darin in elektrische Energie umgewandelt werden kann. Bei der Kernfusion - der Kernbildung - werden dagegen Kerne des leichtesten Elements Wasserstoff aneinander gebunden. Es entsteht so aus den Kernen des schweren oder überschweren Wasserstoffs letzten Endes Helium. Durch die Bindung schwerer Wasserstoffatome werden Energiedifferenzmassen frei und bilden so den Ausgangspunkt für die Gewinnung elektrischer Energie. Dieser letztere Vorgang, die Kernfusion, hat deshalb eine so enorme Bedeutung, weil der Rohstoff Wasser in unerschöpflichen Mengen zur Verfügung steht.
An sich ist das Problem der Energiegewinnung auf dem Wege der Kernfusion gelöst. Allerdings gelingt dieser Prozeß zur Zeit nur in der Wasserstoffbombe mit ihrer ungeheuer zerstörenden Wirkung. Kann man aber erst Jene freiwerdenden rieigen Energiemengen technisch einwandfrei unter Kontrolle halten und sie in die für Ihre friedlich Verwendung notwendigen Bahnen lenken, dann werden die zur Verfügung stehenden Energiemengen einfach unerschöpflich sein.
Zwischen der Kernkraftumwandlung und der Entwicklung unserer Kohlenindustrie besteht ein sehr enger Zusammenhang, der sich daraus ergibt, daß die im Prozeß der industriellen Umwälzung sich vollziehende Vollautomatisierung - der Produktion einen sehr schnell wachsenden Bedarf an elektrischer Energie hervorruft und dieser Bedarf mit unseren herkömmlichen Mitteln nicht mehr gedeckt werden kann, da unsere Kohlenvorräte - nicht nur bei uns, auch in anderen Ländern - nicht unerschöpflich sind und vor allen Dingen in wenigen Jahrzehnten schon nicht mehr ausreichen, um den bestehenden Bedarf an elektrischer Energie zu decken. In dieser Lage befinden sich alle Länder, die schon heute einen hochentwickelten Kohlenbergbau haben und Ihre Kohlen-Rohstoffquellen weitgehend in Anspruch nehmen und die deshalb in wenigen Jahrzehnten damit rechnen müssen, daß ihre Kohlenquellen nicht mehr ausreichen. Zu diesen Ländern gehört vor allen Dingen England.
Mit welchem Bedarf an elektrischer Energie werden wir in den nächsten Jahrzehnten zu rechnen haben?
Es gibt eine auf statistischen Unterlagen aufgebaute Kurve der Elektroenergieerzeugung in den letzten fünfzig Jahren. Daraus ist ersichtlich, daß sich der Bedarf an Elektroenergie in jeweils zehn Jahren verdoppelt Das ist in allen Ländern nachgewiesen und gilt auch für den Weltverbrauch. Lediglich die Sowjetunion weist in der Zeit nach 1920, nachdem der von Lenin aufgestellte GOELRO-Plan verwirklicht wurde, ein bedeutend stärkeres Ansteigen des Energiebedarfes und der Stromerzeugung nach. Wir können damit rechnen, daß sich in unserer Republik (die schon einen verhältnismäßig hohen Stand der Energieversorgung hat - gegenwärtig etwa 1600 kWh Stromverbrauch pro Kopf der Bevölkerung) die Stromrzeugung innerhalb der nächsten fünfzig Jahre so entwickelt, daß in jeweils zehn Jahren eine. Verdoppelung eintritt. Das heißt, daß sich in der Deutschen Demokratischen Republik die Erzeugung und der Verbrauch an elektrischer Energie bis zum Jahr 2005 auf über 1000 Milliarden kWh erhöhen wird.
Nehmen wir an, daß die Bevölkerung unserer Republik bis zum Jahre 2000 auf etwa 30 Millionen angestiegen ist, dann bedeutet das, daß wir um die Jahrtausendwende mit einem jährlichen Energieverbrauch von 33.000 kWh pro Kopf der Bevölkerung rechnen müssen. Dieser Verbrauchsanstieg ergibt sich einfach durch den immerhöheren Bedarf an elektrischer Energie In Industrie, Landwirtschaft und Haushalt, Die Zahl von 35.000 kWh gegenüber der gegenwärtigen 1600 kWh erscheint außerordentlich hoch, aber sie ist keineswegs phantastisch. Bei uns wird Elektroenergie heute und auch sicher noch in nächster Zukunft fast ausschließlich aus dem Brennstoff Braunkohle erzeugt. Berechnet man den Bedarf unter der Annahme, daß die gesamte Elektroenergie in Kohlekraftwerken erzeugt würde, so ergibt sich, daß bis zum Jahre 2000 der Bedarf für die Stromerzeugung auf Jährlich 1,9 Milliarden Tonnen Rohbraunkohle ansteigen müsste. Bekannt Ist, daß wir im Jahre 1955 200 Millionen Tonnen Rohbraunkohle gefördert haben und daß wir im Jahre. 1960 260 Millionen Tonnen fördern werden.(Ist: 225,5 Mill. Tonnen). Unsere Rohbraunkohle ist aber nicht unerschöpflich die Vorräte betragen gegenwärtig rund 25 Milliarden Tonnen. Wollten wir unsere Energie allein aus Kohle erzeugen, dann würden schon im Jahre 1995 die Vorräte aufgebraucht sein.
Alle Fachleute schätzen die maximale Möglichkeit der Förderung auf 450, allerhöchstens 500 Millionen Tonnen. Dieses Maximum läßt sich bestenfalls in den achtziger Jahren erreichen. noch im Jahre 1970 könnte nur mit 380 Millionen Tonnen gerechnet werden. Aber schon im Jahre 1965 würde bei einer anzunehmenden Braunkohlenförderung von 330 Millionen Tonnen und einer Stromerzeugung von 65 Milliarden kWh ein Bedarf auftreten, der bereits um 4 Millionen Tonnen größer ist als die Förderung. Das bedeutet also, daß es schon zu dieser Zeit notwendig Ist, elektrische Energie aus anderen Quellen zu erzeugen. Bis zum Jahre 1970 würde der Fehlbedarf an Braunkohle auf 60 Millionen und bis zum Jahre 1980 schon auf 250 Millionen Tonnen ansteigen.
Der neue Energieträger, der an Steile von Kohle zum Einsatz kommen muß, kann nichts anderes sein als die Atomenergie. Also müssen schon im Jahre 1965 Atomkraftwerke in unserer Republik arbeiten, die einen von Jahr zu Jahr steigenden Anteil der Deckung des Energiebedarfs zu übernehmen haben. Setzt man voraus, daß der Bau dieser Atomkraftwerke nur allmählich anlaufen kann und daß dabei auch Erfahrungen gesammelt werden müssen, so ergibt sich, daß spätestens im Jahre 1961 unser erstes Atomkraftwerk in Betrieb genommen werden muß, und daß der Zeitraum von 1961 bis 1970 dazu benutzt wird, um die bis dahin entwickelte fortschrittlichste Methode der Gewinnung von Energie aus Atomkraft in die Praxis umzusetzen. d. h. Atomkraftwerke modernsten Typs in großem Umfange zu errichten.
Gegen die Vorschlage zum Bau von Atomkraftwerken wird oft das Argument ins Feld geführt, daß nach der Wiedererstellung der Einheit Deutschlands die wesentlich größeren Kohlenvorräte Westdeutschlands eine günstigere Versorgung mit Kohle voraussehen lassen.
Zunächst ist es richtig, daß man bei einer Energieperspektive für einige Jahrzehnte nicht isoliert für den Raum der Deutschen Demokratischen Republik denken kann, sondern die Entwicklung Gesamtdeutschlands in Rechnung stellen muß, da niemand an eine jahrzehntelange Spaltung Deutschlands glauben kann. Es erscheint auch der zweite Teil des Arguments richtig. Die Kohlenvorräte Westdeutschlands sind viel größer als die der Deutschen Demokratischen Republik, aber es ist jedoch nicht richtig, allein von den geologischen Vorräten auszugehen. Man muß vielmehr betrachten; inwieweit es möglich ist, diese vorhandenen Kohlenvorräte auch tatsächlich zufördern. Die Kohlenvorkommen sind auf engem Raum konzentriert; wer das Ruhrgebiet kennt der weiß, daß ein Schacht neben dem anderen liegt, so daß kaum noch Raum für die Neuanlage von Schächten gegeben ist. Bedenken muß man außerdem, daß der größte Teil der Kohle In Tiefen unter 1200, teilweise sogar unter 2000 m liegt. Und es ist bekannt, daß die Förderung um so schwieriger wird, je tiefer die Kohle liegt. Und auch teurer wird die Kohle dadurch! Gehen wir aber davon aus, daß in spätestens zehn Jahren die Energie, die aus Atomkraft gewonnen wird, wesentlich billiger sein wird als die aus der Kohle gewonnene, so dürfte kaum nach ein Anreiz bestehen, die in so großen Tiefen vorhandenen westdeutschen Kohlenvorräte abzubauen.
Zudem besagt eine von westdeutscher Seite vorkurzem vorgenommene Berechnung. daß schon im Jahre 1965 aus Quellen, die bis jetzt noch nicht vorhanden sind, Elektroenergie gewonnen werden muß, weil die Kohle dann schon nicht mehr ausreichen wird. Jener westdeutsche Sachverständige rechnet damit, daß im Jahre 1965 bereits eine Erzeugungslücke zwischen 10 und 30 Milliarden kWh besteht und im Jahre 1970 eine solche zwischen 20 und 60 Milliarden kWh.
Folglich kann gesagt werden, daß auch nach der Wiedervereinigung Deutschlands die Kohlenförderung bald nicht ausreichen wird, um den Bedarf an elektrischer Energie zu decken. Also ist dieses Argument, daß die größeren Kohlenorräte Westdeutschlands es erübrigen, an den Bau von Atomkraftwerken in unserer Republik heranzugehen, nicht stichhaltig.
Wenn man über den Bau van Atomkraftwerken spricht, dann taucht auch die Argumentation auf, daß wohl nun die Entwicklung unserer Kohlenindustrie weniger bedeutungsvoll geworden wäre. Genau das Gegenteil ist richtig! Es sind in der Hauptsache drei Gründe, die gegen diese fehlerhafte Argumentation sprechen:
Gerade darum sind die Großbauten der Kohlenindustrie in den nächsten Fünfjahrplänen erstrangig für die Entwicklung unserer ganzen Volkswirtschaft. Die Bedeutung der Kohleveredlung in den neuen Kokskombinaten besteht darin, daß die Kohle nicht mehr in Form von Briketts, sondern nur noch als Koks auf der Grundlage des Lauchhammer-Verfahrens an die Wirtschaft geliefert wird, und daß das aus der Braunkohle gewonnene Gas in solchem Umfange erzeugt wird, daß die Versorgung aller Haushalte der Republik aus den Ferngasleitungen möglich sein wird. Darüber hinaus werden der chemischen Industrie große Mengen Teer, Leichtöle und andere Stoffe zur weiteren Verarbeitung zur Verfügung gestellt.
Einiges zu den Problemen der Automatisierung...
Quelle: Selbmann, Fritz (Stellv. des Vorsitzenden des Ministerrates); An der Schwelle einer technischen Revolution, Jugend und Technik 10/1956, S. 429-431 (432)
Ergänzung 1981 wurden in der DDR 266,7 Mio.t Braunkohle gefördert, die Elektroenergieerzeugung betrug 100,7 Mrd.kWh und in BRD (1982) 366,9 Mrd.kWh
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